Man kann es auch übertreiben. Das ist mir durch den Kopf gegangen, als ich im Internet über eine 100 Things Challenge gestolpert bin. Das Ziel: Nur noch 100 Dinge besitzen.
Ist das nicht etwas zu viel Minimalismus? Oder einfach nur konsequent?

The Cult of Less

Schon bei einem meiner ersten Kontakte mit dem Minimalismus drehte sich alles um das extreme Reduzieren. Beim Flanieren im Internet stolperte ich vor Jahren über den Cult of Less des Programmierer Kelly Sutton. Während einer längeren Reise hatte er seinen Besitz bei Freunden untergestellt. Wieder zurück, stellte er fest, dass er nicht mehr wusste, was überhaupt in all den Kartons war, geschweige denn, dass er etwas davon vermisst hatte. Anscheinend brauchte er nur wenig.
Das brachte ihn auf eine Idee. Er gründete den Cult of Less und fing an, zu entrümpeln. Über den Stand seiner Bemühungen gab eine Website (nicht mehr online) Aufschluss. Es gab dort eine – recht überschaubare – Liste seiner Habseligkeiten. Irgendwann passten die in zwei Koffer und zwei Kisten.
Ich fand es faszinierend, aber auch abschreckend. Einerseits beeindruckte mich nachhaltig, wie er mit wenig Dingen seinen Alltag meisterte. Andererseits irritierte mich das Streben, immer mehr zu reduzieren.
Jahre später habe ich selbst deutlich entrümpelt (und fühle mich damit ausgesprochen gut). Radikales Entrümpeln und maximaler Minimalismus rufen in mir jedoch noch immer Unbehagen hervor.

Sollte Minimalismus nicht vereinfachen?

Sind es nicht Zwänge und Vorgaben, die ich dank minimalistischem Lebensstil loswerden möchte? Ist der Versuch möglichst viel Minimalist zu werden, noch Minimalismus?
Was passiert, wenn das Entrümpeln immer weiter geht und irgendwann sich alles nur darum dreht, ob drei T-Shirts eins zu viel sind. Macht es meinen Alltag wirklich einfacher?

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Warum Minimalismus

Ein Ziel des Minimalismus ist es, weniger und vor allem bewusster zu konsumieren. Nicht jeden Trend hinterherlaufen, sondern selbstkritisch entscheiden, was brauche ich wirklich. Im Idealfall fällt es mit der Zeit immer leichter und Kaufreflexe treten seltener oder gar nicht auf. Man beschäftigt sich weniger mit materiellen Dinge und hat mehr Zeit für sich selbst.

Wenn der Minimalismus zu weit geht

Minimalismus bedeutet nicht automatisch „weniger ist besser“. Strebt man nur noch danach, möglichst wenig zu besitzen, und sieht dies als perfekten Minimalismus an, hat man nichts erreicht. Denn letztendlich dreht sich wieder alles um materielle Dinge.
Dabei sollte doch das Ziel eines minimalistischen Lebensstils sein, sich vom Streben nach Perfektion und der ständigen Auseinandersetzung mit Dingen zu verabschieden.

Nicht Materialismus durch Minimalismus ersetzen

Ziel eines minimalistischen Lebens ist es frei, von unnötigen Zwängen und vermeintlichen Verpflichtungen zu sein. Wird Minimalismus zur Pflicht, wird zwar aus viel Besitz wenig Besitz, es dreht sich aber nach wie vor alles um Materielles. Hat man es vorher übertrieben mit dem Kaufen, übertreibt man es jetzt mit dem Entrümpeln.

„Obsession over possessions is unhealthy, and it needs to be rethunk.“

Der Minimalist, der stolz Fotos seiner minimalistischen Wohnung auf Instagram postet, unterscheidet sich nicht von seinem autoverrückten Nachbar, der Bilder seiner neuen Karre hochlädt. #minimalismus #myride

Auch Minimalisten dürfen gerne Dinge besitzen

Zum Minimalismus gehört es auch, sich an materiellen Dingen zu erfreuen. Es ist natürlich ok, Sachen zu haben, die einen glücklich machen oder das Leben vereinfachen. Es ist schön, wenn ich einen Gegenstand nach Monaten und Jahren des Gebrauchs immer noch gerne nutze.

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Minimalismus = bewusster Konsumieren?

Was macht der Minimalist, nachdem er die Bohrmaschine entsorgt hat und feststellt, dass er ein Regal anbringen muss? Er kauft eine neue. Was unternimmt er anschließend? Die Bohrmaschine wieder entrümpeln.

Wegwerfkultur Minimalismus?

Zugegeben: Dies ist ein überzeichnetes Beispiel eines gängigen Entrümplungs-Tipps. Die Idee dahinter ist gleichzeitig problematisch und sinnvoll. Anstatt sich beim Entrümpeln mit der Frage zu quälen „Und wenn ich sie doch brauche?“, schmeißt man es besser weg. Häufig ist das der richtige Entschluss. Denn die Gegenstände, bei denen wir uns nicht zwischen Behalten und Wegschmeißen entscheiden können, werden wir fast nie vermissen.

Ist das nachhaltig?

Dennoch: Mit bewusstem Konsumieren hat das nicht mehr viel zu tun. Natürlich entrümpelt es sich leichter, solange man denkt „Notfalls kauf‘ ich es halt neu“. Nachhaltigkeit sieht jedoch anders aus. Außerdem muss man es sich leisten können.
Etwas wegzuschmeißen ist leicht, wenn man weiß, dass man es notfalls erneut kaufen kann. Bin ich dafür zu arm, behalte ich jeden noch so überflüssigen Gegenstand.

Nachhaltigkeit fängt bereits beim Entrümpeln an

In der Regel haben wir zu viel und vor allem zu viel Überflüssiges und Belastendes. Dagegen hilft nur Entrümpeln. Dennoch sollten wir das Entsorgen nicht als Sport sehen, sondern uns stets kritisch fragen, was wir loswerden können. Hat man erst mal angefangen, ist man ohnehin überrascht, wie viel man guten Gewissens loswerden kann.

Bewusster Minimalismus fördert bewusstes Verhalten

Trotz aller Kritik, Minimalismus ist gut. Er hilft uns, insbesondere in unserer hektischen Welt, Klarheit zu erlangen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um bewusster zu leben und zu konsumieren.
Wer minimalistisch lebt, dem fällt es leichter, sich von Dingen, aber auch von ungesunden Obsessionen, zu verabschieden. Durch Minimalismus wird es einfacher, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Somit trägt er auch zu einem bewussten Kaufverhalten bei.
Auch radikales Entrümpeln und der Versuch, mit nur 100 Dingen durchs Leben zu kommen, sind sinnvoll. Solange man es zum Einstieg nutzt und es nicht zu einer Obsession wird.
Es wird immer dann problematisch, wenn man es übertreibt. Wenn aus einer guten Sache, ein Zwang wird. Sobald wir uns unter Druck setzen, um möglichst viel Besitz loszuwerden, ist es weder minimalistisch noch nachhaltig. Daher gilt auch beim Minimalismus: Viel ist manchmal einfach zu viel.

tl;dr

Zwanghaftes Entrümpeln und Reduzieren helfen nicht beim Vereinfachen und haben nichts mit Minimalismus zu tun.

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